Discokultur. Nur hedonistische Sause oder hochpolitisch?

Frankie Knuckles at Carols' Speakeasy Feature in Gay Chicago

Warum ist Discokultur nicht nur eine hedonistische Sause, sondern von seiner radikalen Idee her auch hochpolitisch?
Ein Interview aus der TAZ von Finn Johannsen mit Tim Lawrence, dem Autor dreier Bücher zur „Urban Dance Music Culture“ zeigt hochspannende Bezüge zwischen der frühen Disco-, Party- bzw. Clubkultur der frühen 1970-er Jahre und damaliger sowie gegenwärtiger politisch-gesellschaftlicher Phänomene. Die rechten und reaktionären Tendenzen der Politik, etwa die eines Donald Trumps, sieht Tim Lawrence schon beginnend mit der „Disco Demolition Night“, in der am 12. Juli 1979 ein lokaler Radio-DJ dazu aufforderte, Disco-Platten ins Comiskey-Park-Stadion in Chicago mitzunehmen, um sie dann dort spektakulär in die Luft zu jagen. Discokultur wurde hier instrumentalisiert, um den Frust der weißen Bevölkerungsgruppe, die sich ökonomisch abgehängt fühlte und deren einfache Weltbilder für eine zunehmend komplexer und diverser werdende Gesellschaft nicht mehr funktionierten, Ausdruck zu verleihen.

Anfänglich recherchierte Tim Lawrence für sein Buchprojekt in der amerikanischen DJ-Szene. Er interviewte dazu Proponenten der frühen House- und Clubmusik wie Tony Humphries, Frankie Knuckles [Siehe Foto] oder David Morales. Diese erzählten wiederum von ihren prägenden Einflüssen, wie etwa den sogenannten Loft-Parties in NYC und deren Gastgeber, dem DJ David Mancuso. Er empfahl Lawrence schon die Clubgeschichte vor der eigentlichen Zeit der Disco-Hochblüte in den frühen Siebzigerjahren in seine Recherche miteinzubeziehen.
Lawrences’ wichtigste Erkenntnis, nach der eingehenden Befassung mit der Materie bestand darin, dass die kulturelle Innovation in der Clubmusik passierte, als das „Zwiegespräch“ zwischen DJ und Publikum zu einer radikal neuen Handhabung der Musik führte.

Zudem war dieses Nachtleben Teil einer kulturellen Gegenbewegung. Es war eng verbunden mit den sozialen bzw. zivilgesellschaftlichen Bemühungen dieser Zeit in den Vereinigten Staaten. Dass die Clubkultur überwiegend Black Music, also von People of Colour geprägt war, scheint weder Johannsen noch Lawrence besonders erwähnenswert. Jedenfalls stand die frühe Discokultur in direkter Verbindung zur Schwulen-, Lesben-, Bürgerrechts-, Frauenrechts- sowie der Antikriegsbewegung. Aber auch LSD-Experimente waren Teil der damaligen Erfahrungen.

Mit dem Elevate Festival, welches seit Jahren die Verbindung von politischem Diskurs und Clubkultur erprobt, ist Graz in diesem Sinne ein guter Ort. Das Graz Grammar Picó Sound System versteht sich ebenfalls als lebendiger Beitrag zu dieser Gegenkultur.

Interview von Finn Johannsen mit Tim Lawrence nachzulesen in der „TAZ – Kultur/Musik Online“ [Titel: Disco-Kultur in New York: „Alle Wege führen zurück zum Loft“] erstellt am 5. 2. 2017, 10:56 Uhr und abgerufen am 25.11.2022, 15:05.

Homepage von
Tim Lawrence:

Bücher von Tim Lawrence:
– Love Saves the Day: A History of American Dance Music, 1970 – 1979
– Hold On to Your Dreams: Arthur Russell and the Downtown Music Scene, 1973 – 1992
– Life and Death on the New York Dance Floor, 1980 – 1983